Holland - ein maritimes Museum

Rotterdam - Amsterdam

Renés Schrottkunst-Reich im Sumpf ausserhalb von Amsterdam


Text und Bilder Carmen Wili und Stefano Butti


Anreise
Wir wählten die City Night Line von Zürich nach Utrecht. Da wir das Gefühl nicht loswerden, dass diese besonders romantische Reisemöglichkeit im Zug bald abgeschafft wird, wollten wir die Reise ganz besonders zelebrieren. Der mit Geburtstagskerzen bereicherte Kuchen für Stefano wurde vom Zugpersonal verständlicherweise aus Sicherheitsgründen nicht genehmigt, ein Foto von uns mit Kuchen und brennenden Kerzen drauf aber dennoch schmunzelnd gegönnt. Unsere Feierlichkeit war angeblich harmlos im Vergleich zu einem Paar, das letzthin das ganze Abteil mit Teelichtern ausstatten wollte.

Zu einer angenehmen Uhrzeit, morgens um 8.30 Uhr und nach einem schönen Frühstück, kamen wir in Utrecht bei leichtem Regen an und liessen uns mit einem beliebten Pendlerzug nach Rotterdam weiterbringen. Wie angenehm mal ganz entspannt zwischen dem hektischen und arbeitswütigen Volk zu verweilen.


Rotterdam und SS Rotterdam
Ein kurzer Kaffee und ab ins Taxi welches uns in unser Hotel SS Rotterdam bringt. Steam Ship ‚Rotterdam‘, ein heute als Hotel dienender stillgelegter Kreuzfahrer mit bewegender Geschichte (www.ssrotterdam.nl). Dieser alte Ozeanliner befindet sich am letzten Zipfel der nach Überquerung der Erasmus-Brücke westlich gelegenen Halbinsel. Also sozusagen in Richtung der weiten und doch so verbundenen Nordsee.

Was für ein wunderbares Hotel für Schiffsliebhaber wie wir es sind! Die faszinierende Stimmung die sich über ein halbes Jahrhundert auf dem Schiff verbreitet hat, lässt einen eintauchen in die schicksalsträchtige Geschichte dieses alten Linienschiffes. Die Zimmer, allesamt ehemalige Kabinen, mit Bullauge und Blick auf die von zahlreichen Fahrzeugen durchschiffte Waal (so heisst der Rhein in Holland), oder einige Decks höher und entsprechend luxuriöser, ganz wie man es wünscht. Führungen durch den Maschinenraum oder das Steuerhaus, Besichtigungen der originalen 50er-Jahre Kabinen, Bars, Restaurants, diverse Shops – für den Interessierten wird vieles geboten.

Bewundernswert organisiert ist der Tuktuk Service (Link). Tuktuks sind kleine, überraschend kräftige und schnelle Elektro-Mobile, die die Gäste als Taxis, nur bedeutend günstiger, befördern. Auch für den Rückweg. Nachts können die Wartezeiten jedoch etwas länger dauern. Uns hat auch das nichts ausgemacht.

Nach dem üppigen Mittagessen, bestehend aus Burger mit Frites in einer gemütlichen Hafenkneipe am alten Wijnhaven – speziell erwähnt werden müssen die angenehm beschallten Kneipen in Holland mit gut gewählter Background-Musik, von Frank Sinatra über Adele bis Shirley Bassey etc. – begeben wir uns zu unseren ersten drei Schiffsterminen im Museumshafen von Rotterdam, dem ehemaligen Bierhaven:


Schlepper ‚Esperance‘
Samantha und Roli, ein jüngeres Lebenskünstler-Paar inklusive Knurr-Hund und Schiffskatze begrüssen uns auf der ‚Esperance‘. Das Schiff mit seinen gut 18 Metern Länge wird intensiv besichtigt, insbesondere natürlich der Maschinenraum wo ein 320 PS starker Deutz/MWM Motor mit 8 Zylindern untergebracht ist, von Captain Roli liebevoll „The Biest“ genannt. Alles in allem ein wunderschönes altes Schleppboot wobei der Innenausbau für unseren Geschmack im Vergleich zum Schiff mit Baujahr 1934 eine Spur zu modern geraten ist. Die ‚Esperance‘ befindet sich in einem sehr gepflegten Zustand, welcher sicher auch wegen der dauernden Nutzung als Wohnung entsprechend daherkommt. Dieser kleine und trotzdem recht wuchtige alte Hafenschlepper mit 70 Tonnen Gewicht und klassischer Rundspant-Schalenform ist ein echter Hingucker im Rotterdamer Museumshafen.


Rundfahrtenschiff ‚Hercules’
Nicht minder ein Hingucker erster Güte ist die ‚Hercules‘, ein ehemaliger Schlepper welcher heute als Rundfahrtenschiff im Hafen von Rotterdam eingesetzt wird (www.herculeswatersport.nl). Kapitän Martin, ein erfahrener Seemann und überaus liebenswerter Zeitgenosse, führt uns durch sein Schiff. Mit Baujahr 1900 ist die ‚Hercules‘ ein altes Schiff und stammt noch aus der Dampferära. Heute treibt aber ebenfalls ein Deutz/MWM-Dieselmotor von 1952, hier aber lediglich mit 6 Zylindern und einer Maschinenleistung von 230 PS das 20 Meter lange und 4.50 Meter breite Schiff an. Die ‚Hercules‘ ist für den Betrieb mit Tagesfahrgästen ausgelegt. Im Vorschiff befindet sich eine kleine Küche mit anschliessender Bar und entsprechend vielen Kühlmöglichkeiten. Von der Bar gelangt man über eine Treppe direkt in das geräumige Steuerhaus, welches mit schönen alten nautischen Instrumenten sowie Radar und AIS-Transponder für den professionellen Betrieb ausgestattet ist. Der Maschinenraum als Herzstück liegt in der Mitte des Schiffes, dahinter noch Tanks, Getriebe, Hilfsmaschinen (ein Onan-Aggregat mit 7,5 KW, sowie ein alter Lister mit 25 KW Leistung), sowie die Schlafkabine mit 2 Betten, Toilette und Dusche. Auch an Deck bietet die ‚Hercules‘ viele Sitzplätze, Bänke und Ecken zum Verweilen. Am Ende unserer nautischen Reise durch die Niederlande sollten wir die ‚Hercules‘ als in unseren Augen schönstes Fahrzeug in Erinnerung behalten. Doch soweit ist es noch lange nicht!




Polizeiboot ‚Breehorn’
Gegenüber der ‚Hercules‘ liegt die ‚Breehorn‘, ehemaliges Polizeiboot P7 der ‚Gemeente Politie Rotterdam’ und heute als Privatjacht unterwegs. Der schick gekleidete Eigner Jan, der sich vermehrt um seine Familie und seinen 4-jährigen Sohn kümmern will, erwartet uns bereits. Die ‚Breehorn‘ ist mit 17 Metern das kleinste Boot unserer heutigen Besichtigungstour. Allerdings auch das am besten gepflegteste. Falls eine neue Maschine und Antriebsanlage, sowie Abwassertanks eingebaut würden, wäre es gegebenenfalls sogar möglich, dieses Boot in die Schweiz einzuführen (Europaweit hat unser Land die strengsten Vorschriften für Schiffe). Die ‚Breehorn‘ hat ein sehr grosses Achterdeck als Arbeitsplattform, der Platz für Wohnen, Steuerhaus und Bad ist entsprechend spärlich. Mit Baujahr 1940 ist auch dieses Boot vom Linienriss her ein Schmuckstück und auch die Ansicht von Vorne, mit den zwei Bullaugen unter dem Steuerstuhl, ist sehr speziell, erinnert fast ein wenig an ein Gesicht.



Ein Hafenkran wo er hingehört
Die Besichtigung der Schiffe empfinden wir als ein berauschender Museumsbesuch. Hin und weg von Faszination und Bewunderung geben wir uns danach der Entspannung bei Bier und Wein in der sympathischen ‚De Buuren-Bar’ (Link) hin. Bereichert mit neuer Energie, lassen wir uns den Spaziergang durch Rotterdam by night mit all seinen seelenvollen und wunderbar beleuchteten Hafenkränen, Saugbaggern, Marinebooten und alten Schiffsmaschinen ganz besonders versüssen. Die Stimmung ist so endlos weit und verheissungsvoll, unbegrenzt maritim, dass wir uns erneut die Frage stellen: Warum will Zürich nicht Zürich sein? Rotterdam will schliesslich auch nicht eine Kopie des Grossmünsters in seinem nautischen Stadtherz errichten! Mit vielen Eindrücken, philosophischen Gesprächen und einem z’Nacht an Bord der SS Rotterdam lassen wir diesen Tag ausklingen.



Amsterdam und die ‚Dikke Bertha’
Nach dem Frühstück an Bord der SS ‚Rotterdam‘, Zimmerabgabe und Tuktuk-Fahrt zum Bahnhof, dislozieren wir heute nach Amsterdam. Die Bahnfahrt dauert eine knappe Stunde und unser Swissôtel befindet sich in Gehdistanz zum Bahnhof, mitten im Herzen von Amsterdam. Nach einchecken und Umgebung auskundschaften, reservieren wir ein Mietauto für den folgenden Tag und machen uns mit Tram Nr. 26 auf die Suche nach unserem heutigen Besichtigungsboot, der ‚Dikken Bertha‘. Normalerweise kennen Touristen ja lediglich das Zentrum von Amsterdam und auch da hat es bekanntlich schon hunderte von Schiffen. Nun suchen Sie doch bitte mal den ‚Zuider-ijdijk‘, ganz in der Nähe des ‚Zuiderzeewegs‘, dort liegt nämlich irgendwo die ‚Dikke Bertha‘, ein ganz kleines Arbeitsboot, von den holländischen Kennern der Szene gemeinhin als ‚Opduwer’ und von Carmen als ‚Dampferli‘ bezeichnet. Nur soviel im Nachhinein: Es war ein Abenteuer für sich. Wir wissen nun endlich wo die richtigen Amsterdamer Boat-People hausen, nicht in den Grachten, nein, dort wohnen nämlich höchstens Millionäre. Wenn Sie wirklichen günstigen Wohnraum sehen wollen dann gehen sie an der ‚Zuider-ijdijk‘, es hat etwas Verwahrlostes und doch sehr Romantisches, die Boote an den Ufern des Ij, so heisst der grosse Meeresarm zum Ijsselmeer. Nach rund zwei Stunden Suche und etlichen Kilometern zu Fuss, entlang von Deichen, Sandhügeln, Kieswerken und Schleusen finden wir endlich die ‚Dikke Bertha‘ und den dazugehörigen Menschen namens Hans. Das Boot steht an Land auf dem abgesperrten Gelände einer Schleuse. Wir sind etwas enttäuscht, hatten das Schiff schwimmend erwartet. Immerhin kann das Schiff aber sehr ausführlich besichtigt werden. Fazit: Schale mehrfach aufgedoppelt, Motor ohne CE-Zertifikat, eher zu viel Rost als zu wenig, für einen Import in die Schweiz also ziemlich unbrauchbar. Aber es war ein spannendes Erlebnis. Erschöpft vom langen Fuss-Marsch gehen wir zurück, steigen in die Strassenbahn und lassen diesen Tag mit einem wirklich exquisiten Abendessen im Restaurant Zuid Zeeland (Link) an der Herengracht Revue passieren. Wir erzählen Carlos, dem heiteren Kellner von unseren abenteuerlichen Schiffserlebnissen.


Der Schrotthändler und der Pilot
Bereits um 09.00 Uhr und mit leicht sturmem Kopf vom vorabendlichen Alkoholkonsum müssen wir heute aus den Betten. Wir haben einen Termin mit Opduwer-René. Das einzige Problem ist, wir haben keine Ahnung wo. So fahren wir los, unserem heutigen Abenteuer entgegen. Nach ca. zwei Stunden Autofahrt erreichen wir endlich einen kleinen Bauernhof direkt an der Hauptstrasse, irgendwo im nirgendwo. Der Boden ist schlammig und dreckig, eigentlich ein wahrer Sumpf! Ueberall liegt vermeintlicher Schrott herum und auf einer kleinen Tafel steht „ In/verkoop Boten, Motoren & aanverwante accesoires“. Hier muss es sein. Ein auf den ersten Blick eher spezieller Mensch mit sehr abgearbeiteten Überhosen begrüsst uns distanziert. Voller Entzücken und glänzenden Augen besichtigten wir diverse Schiffsschalen von Arbeitsbooten, Schleppern und Ruderbooten. Hier liegen alte Motoren herum, Trouvaillen längst vergangener Industrieproduktion, Getriebe und Schwungräder. Wir sind angekommen. Angekommen in der schrägen Welt von René, dem Rothaarigen und Willem, dem Blauäugigen, auf dem Schrottplatz der Maschinen-Künstler. René Industrie zeigt uns sein Reich, nun mit Stolz und gar nicht mehr so distanziert. Immer wieder taucht hinter einer Ecke eine Schale auf, alte Autos, alte Maschinen, rostig, halb verrostet, halb renoviert, renoviert, perfekt renoviert. Dazwischen wieder ein Schaf, ein Esel oder ein schottisches Hochlandrind, eine
bizarre Szenerie.

Weiter geht es Richtung Eemnes, zum Yachthafen Eembrugge. Dort erwartet uns Gerard mit seinem Schlepper ‚Alfa‘, ein pensionierter Pilot der KLM, dessen Sympathie durch sein vieles Lachen besonders zum Ausdruck kommt und dessen Herz leidenschaftlich für alte Schiffe schlägt. Gerard begrüsst uns herzlich. Sein altes Schleppboot Alfa mit Baujahr 1908 und 20 Meter Länge liegt am Steg. Ein grosses und altes Boot welches im Moment die besten Jahre schon länger hinter sich hat. Ein alter, mannshoher Deutz-Motor mit Baujahr 1920 füllt den Maschineraum aus. Eine Supermaschine mit einem stolzen Gewicht von sage und schreibe 14 Tonnen! Wir haben selten ein so altes Schiff gesehen bei welchem noch so viel Originalsubstanz vorhanden ist.

Auf dem Heimweg fahren wir über Vinkeveen und besichtigen dort einen Schiffsausüster. Ein beachtlicher Schopf, ebenfalls landschaftlich gelegen, bietet ein unübertreffliches Angebot von Schiffszubehör und Accessoires zu überraschend tiefen Preisen (Link).

Auch heute beschliessen wir, unseren ereignisreichen Tag und die entsprechende Müdigkeit mit einem besonderen Abendessen zu segnen. Diesmal im Restaurant Proeverij (Link) an der Prinsengracht. Schon der Spaziergang dahin ist ein Erlebnis. Die Wohnschiffe, die hier in der Gracht liegen, sind besonders schön.



Tulpen aus Amsterdam
Nun haben wir leider bereits Samstag. Es ist unser Abreisetag. Wir schlafen aus und verpassen beinahe das ausgiebige Frühstück. Nach der Zimmerabgabe stellen wir unser Gepäck im Hotel ein und bummeln das erste Mal in unserem Urlaub einfach so, sprich ziellos, durch die Stadt. Am Tulpenmarkt kaufen wir ein, schlendern durch die schmucken Läden am Singel- und der Keizergracht und trinken Kaffee am Leidseplein. Auch ohne Schiffe ist Amsterdam eine sehr schöne und lebensfrohe Stadt. Nach einer Stadtrundfahrt durch die verträumten Grachten geniessen wir unsere finale Schiffsbesichtigung an bester Lage, im Hafen direkt im Herzen unweit der Centraal Station.



Werftboot ‚Wodan‘
Das Arbeitsboot ‚Wodan‘ von Antje und Martin liegt neben einigen alten Schiffen und Schwimmpontons direkt im grossen Hafenbecken von Amsterdam. Wir müssen über zwei andere Schiffe steigen um an Bord zu gelangen. Die Wodan wurde 1905 in Belgien gebaut und ist 16.30 Meter lang und 4.30 Meter breit. Eine absolute Rarität finden wir mit dem Antriebsmotor vom Typ Industrie 2VD6A im Maschinenraum der ‚Wodan‘. Kapitän Martin startet sogar extra für uns den eindrücklichen 2 Zylinder-Motor mit 100 PS Leistung. Und dieser Motor läuft. Stolz und mit einem Lächeln auf dem Gesicht präsentiert uns der Eigner sein tanzendes zehn Tonnen schweres Monstrum. Wir sind begeistert.



Die Rückfahrt nach Zürich um 20.50 Uhr, wieder mit der City Nightline, lässt uns träumen von all den wunderbaren Schiffen und herrlichen Menschen. Holland, wir kommen bald wieder !